Der 1868 in Stampa geborene Giovanni Ulrico Giacometti zählt zu den bedeutendsten Schweizer Malern des beginnenden 20. Jahrhunderts. Abgesehen von frühen Studienaufenthalten in München, Paris und Rom verbrachte der Künstler sein gesamtes Leben bis zu seinem Tod im Jahr 1933 in seiner Heimat, dem Bergell. Hier und im angrenzenden Oberengadin boten ihm seine Familie und die alpine Landschaft mit ihren Bewohnern immer wieder neue Inspirationsquellen für seine farbenprächtigen und lichtdurchfluteten Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Grafiken. Im Lauf seiner Karriere hat der Künstler weit über eintausend Ölgemälde geschaffen. Viele dieser Werke befinden sich in Privatbesitz, rund einhundertfünfzig Bilder sind in Schweizer Kunstmuseen anzutreffen.
Giovanni Giacometti durchlief seine künstlerische Ausbildung an öffentlichen und privaten Akademien in Deutschland und Frankreich. Zurück in Graubünden orientierte er sich zunächst am symbolistischen Divisionismus von Giovanni Segantini (1858–1899), ehe er sich unter dem Eindruck der Arbeiten von Vincent van Gogh (1853–1890) und Paul Cézanne (1839–1906) allmählich einer postimpressionistischen Malweise zuwandte, die sich durch starke Farbakzente und einen kraftvollen Pinselduktus auszeichnet. Die Landschaften des Spätwerks bestechen durch ihre Lichteffekte.
Seine ersten Erfolge feierte Giacometti um die Jahrhundertwende mit Ausstellungsbeteiligungen in der Schweiz und in Deutschland. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts avancierte er zusammen mit seinem Künstlerfreund Cuno Amiet (1868–1961) neben Ferdinand Hodler (1853–1918) zum „Dreigestirn der Malerei der Schweizer Moderne“. In den 1920er und 1930er Jahren widmeten zahlreiche Schweizer Museen dem Bündner Maler Einzelausstellungen, er wurde an die Biennale von Venedig eingeladen, erhielt öffentliche Aufträge und er war Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission. Seine Söhne Alberto (1901–1966), Diego (1902–1985) und Bruno (1907–2012) traten als Maler Bildhauer, Designer und Architekt äusserst erfolgreich in die künstlerischen Fussstapfen ihres Vaters.
Ein wertvolles Zeugnis von der Hand Giovanni Giacomettis ist sein sogenanntes „Registro dei quadri“. Dabei handelt es sich um ein aus vier Notizheften bestehendes Verzeichnis aus den Jahren 1894 bis 1933, in dem der Maler mehr als fünfhundert von ihm geschaffene Gemälde nochmals skizzenhaft abbildete und diese dokumentarischen Illustrationen mit dazugehörigen Informationen wie Werktitel, Massen, Ausstellungsstationen, Verkaufspreisen und Namen der Käufer versah. Giovannis Sohn Bruno vermachte das „Registro dei quadri“ zusammen mit der Korrespondenz aus dem Familiennachlass dem Kunstarchiv des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) in Zürich.
Mit der Anlage eines eigenhändigen Verzeichnisses seiner Werke reiht sich Giovanni Giacometti in eine lange Künstlertradition ein. Bereits Claude Lorrain (1600–1682) führte ein sogenanntes „Liber veritatis“, in dem er rund zweihundert seiner Landschaftsgemälde mit Zeichnungen dokumentierte, um sich damit gegen Nachahmungen von Fälschern zu schützen. Tabellarische Auflistungen der eigenen Gemälde kennen wir vom Basler Porträtisten Johann Rudolf Huber (1668–1748) mit seinem „Register der Contrafeit“, von Albert Anker (1831–1910) und seinem „Livre de vente“ oder vom Lausanner Maler und Grafiker Félix Vallotton (1865–1925), der ein „Livre de raison“ seiner Gemälde anfertigte.
Innerhalb dieser Gattung privater Werkverzeichnisse von Künstlern nimmt Giacomettis „Registro dei quadri“ aufgrund seines Umfangs von über fünfhundert von ihm selbst skizzierten Werkabbildungen eine herausragende Stellung ein. Abgesehen von seinem Freund Cuno Amiet, der zwei Verzeichnisse mit Farbskizzen von über zweihundertsiebzig seiner Werke anlegte, machte sich kein Maler vor und nach Giacometti die Mühe, eine solche Vielzahl eigener Arbeiten über einen so langen Zeitraum nochmals akribisch mit Zeichnungen festzuhalten. Andere Künstler setzten damals für Dokumentationszwecke auf die Schwarz-Weiss-Fotografie vereinzelter Gemälde oder sie delegierten – wie Ferdinand Hodler – die Erarbeitung eines Werkverzeichnisses an Dritte.
Giacomettis vier Registerhefte sind aus verschiedenem Material (dickes, teilweise kariertes Papier zu Beginn der Aufzeichnungen bis hin zu dünnen, transparenten Blättern im jüngsten Heft) und sie variieren auch in ihren Massen (Höhen zwischen 21,5 und 28 cm und Breiten zwischen 17,5 und 21 cm). Auch in formaler und inhaltlicher Hinsicht unterscheiden sie sich: Im ältesten Heft („Quaderno 1“), das 90 Arbeiten der Jahre 1894 bis1909 umfasst, hat der Künstler vor allem mit Farbkreide und Tusche seine Werke nochmals grossformatig skizziert und ausführlich annotiert. Im zweiten, erst nachträglich entdeckten Heft („Quaderno 1/A“), in dem 148 Werke der Jahre 1909 bis 1913 in eher kleineren, manchmal auch monochromen Abbildungen wiedergegeben sind, finden sich zudem Notizen zur Kunsttheorie und tagebuchähnliche Einträge des Künstlers. „Quaderno 2“ aus den Jahren 1914 bis 1928 weist zusätzlich zu den zunehmend abstrahierenden 259 Werkabbildungen verschiedene Entwurfsskizzen auf. Das letzte, nur noch zehn bemalte Blätter umfassende „Quaderno 3“, das von 1926 bis zu Giacomettis Tod 1933 reicht und 36 Werke aufführt, hat eher flüchtigen Charakter. Die schwindende Detailtreue in den Registerheften zeugt vom wachsenden Erfolg des Künstlers. Fand er zu Beginn seiner Laufbahn offenbar noch genügend Zeit, um die verkauften Gemälde genau zu skizzieren, so scheint er sich mit seinen zunehmenden Verpflichtungen darauf beschränkt zu haben, die Werke nur noch soweit festzuhalten, dass sie gerade noch erkennbar waren.
Giovanni Giacomettis Register seiner eigenen Arbeit ist von unschätzbarem Wert. Es verdeutlicht nicht nur den Prozess des sich selbst dokumentierenden und über sein Œuvre reflektierenden Malers. Ebenso dient es der Identifizierung der exakten Werktitel oder dem Nachweis der Erstbesitzer der Gemälde. Zudem sind in diesem Verzeichnis 81 Werke aufgeführt, deren Standorte beim Erscheinen des Werkkatalogs von Paul Müller und Viola Radlach im Jahr 1997 noch immer unbekannt waren.
Mit finanzieller Unterstützung der Gemeinden Bergell, Silvaplana und St. Moritz, der Kulturförderung des Kantons Graubünden und des Beitragsfonds der Graubündner Kantonalbank hat das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) Giacomettis Registerhefte digitalisiert und publiziert sie nun auf www.giovanni-giacometti.ch. In Zusammenarbeit mit der Somedia AG in Chur hat SIK-ISEA zudem das Faksimile des ersten Registerheftes produziert, sodass nun alle Interessierten einen intimen Blick in Giovanni Giacomettis Arbeitsprozess und Bilderwelt werfen können.
Matthias Oberli, SIK-ISEA Dezember 2015
Ausführliche Informationen zum Leben und Werk von Giovanni Giacometti gibt das von SIK-ISEA herausgegebene, laufend aktualisierte SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz: www.sikart.ch
Ausgewählte Literatur: Die Giacomettis. Eine Künstlerdynastie, hrsg. von Marco Giacometti, Bern: Salm-Verlag, 2014.
Giovanni Giacometti. Farbe im Licht, Ausstellungs-Katalog Kunstmuseum Bern; Bündner Kunstmuseum Chur, 2009–2010, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2009.
Cuno Amiet – Giovanni Giacometti. Briefwechsel, hrsg. von Viola Radlach / Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA), Zürich: Scheidegger & Spiess, 2000.
Giovanni Giacometti (1868-1933). Band I. Leben und Werk. Band II-1/2. Werkkatalog der Gemälde, Paul Müller, Viola Radlach, Dieter Schwarz, Zürich: Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA), 1996-1997.